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Title
Dorpat/Tartu. Geschichte einer Europäischen Kulturhauptstadt


Author(s)
Selart, Anti; Laur, Mati
Published
Extent
217 S., 28 farb. Abb.
Price
€ 28,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Jonathan Schilling, Historisches Seminar, Universität Münster

Beim Verfassen populärer Überblicksdarstellungen zur Geschichte der historischen Region Livland ist die Gefahr groß, auf der einen oder der anderen Seite vom Pferd zu fallen, wie man immer wieder beobachten kann: Entweder neigt man zu einer Überbetonung des deutschbaltischen Einflusses und vernachlässigt darüber die estnische und lettische Perspektive, oder man schreibt die Geschichte als Vorgeschichte der modernen Nationalstaaten, in denen der so prägende deutschbaltische Einfluss nur am Rande als die Geschichte einer fremden „Besatzung“ vorkommt. Die Autoren der vorliegenden Stadtgeschichte von Dorpat (estnisch Tartu) – das sei gleich vorweggenommen – bleiben bei ihrem Ritt durch mehr als 1.000 Jahre fest im Sattel sitzen.

Anti Selart und Mati Laur sind Professoren für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Tartu und haben sich durch zahlreiche Publikationen als Kenner der Geschichte Livlands und Dorpats hervorgetan. Zwar sind beide Autoren Esten, doch handelt es sich bei dem Buch nicht um eine Übersetzung aus dem Estnischen. Vielmehr wurde es speziell im Hinblick auf eine deutsche Leserschaft verfasst. Der Böhlau-Verlag gibt seit Jahren Stadtgeschichten der Europäischen Kulturhauptstädte heraus. Schon 2011, als die estnische Hauptstadt Reval/Tallinn Europäische Kulturhauptstadt war, erschien eine vergleichbare, allerdings um einiges umfangreichere Stadtgeschichte bei Böhlau, damals aber noch von einem deutschen Autorenduo.1 Das vorliegende Buch nun geht auf die Initiative des „Deutschen Kulturforums östliches Europa“ zurück, das sich die verdienstvolle Aufgabe gesetzt hat, die osteuropäischen Kulturhauptstädte dem deutschen Publikum näherzubringen.

Die Geschichte Dorpats wird im Buch streng chronologisch erzählt, was sich als gute Entscheidung erweist: Die Stadt entstand um eine Burg aus dem 8. Jahrhundert und wurde erstmals im 11. Jahrhundert ständig besiedelt. Über die frühe, altrussisch geprägte Geschichte ist nur wenig bekannt; überhaupt sind die überlieferten Quellen zur mittelalterlichen Geschichte der Stadt ziemlich rar, weshalb das entsprechende Kapitel im Buch knapper ausfällt als die anderen. Leider bleiben die Akteure und Abläufe in der Schilderung manchmal etwas unklar. Im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts wurde die ganze Region von deutschen Kreuzfahrern eingenommen, Dorpat wurde Sitz eines Bistums. Nach Riga und Reval gehörte Dorpat zu den größten und einflussreichsten Städten des Ordensgebiets. Zur Mitte des 16. Jahrhunderts war es flächenmäßig etwas größer als Riga, hatte allerdings nur wenige tausend Einwohner, von denen die meisten deutscher Abkunft waren. Als Mitglied der Hanse spielte die Stadt zu dieser Zeit eine nicht unwesentliche Rolle für den livländischen Handel, die sie später allerdings wieder einbüßte. Eine relativ frühe Reformation „von unten“ erlebte die Stadt 1524, als die Bevölkerung unter dem Einfluss eines Laienpredigers den Dom und die Wohnungen der Domkapitulare plünderte und der Stadtrat eine evangelische Kirchenordnung einführte. Aufgrund seiner Lage geriet Dorpat immer wieder zwischen die Fronten von Ost und West, Nord und Süd. Wie auch im übrigen Livland wechselte in Dorpat mehrfach die Herrschaft zwischen dem Deutschen Orden, dem Moskauer Reich, Polen und Schweden. Dabei wurde die Stadt mehrfach zerstört und ihre Einwohner deportiert. Außerdem konkurrierten der Rat und die Zünfte um die kommunale Vorherrschaft.

Unter polnischer Regierung schufen Jesuiten erstmals die Möglichkeiten zu höherer Bildung in der Stadt, als sie 1585 ein Dolmetscherseminar für Missionare und ein Jesuitenkolleg errichteten, die allerdings nur für wenige Jahre bestanden. In dieser Zeit entstanden in Dorpat auch die ersten estnischsprachigen Publikationen, katholische Katechismen. Als Livland 1629 an Schweden und damit unter lutherische Dominanz fiel, fand diese religiöse Bildung eine Fortsetzung, die sogar gezielt auf den Bauernstand ausgedehnt wurde. Am folgenreichsten für die Entwicklung und Bedeutung der Stadt wurde die von Gustav II. Adolf 1632, mitten im Dreißigjährigen Krieg, gegründete Universität Dorpat, die jedoch unter schwedischer Regierung keine allzu große Blüte erleben konnte. Obwohl es erst die zweite schwedische Universitätsgründung nach Uppsala war, stand Dorpat weit hinter dieser 1477 gegründeten Alma Mater zurück: Während in Uppsala mehr als 1.000 Studenten gleichzeitig immatrikuliert waren, waren es in Dorpat zunächst nur 65, später wenig mehr als 100 – hauptsächlich Deutsche, anfänglich mehr Schweden, noch keine Esten. Um Kriegswirren zu entgehen, musste die Universität mehrfach nach Reval oder Pernau/Pärnu verlegt werden, sodass kaum Stabilität und Kontinuität entstehen konnten; 1708 wurde die Stadt im Zuge des Großen Nordischen Krieges (1700–1721) von den Truppen des Zarenreichs dem Erdboden gleich gemacht und blieb für Jahrzehnte ein Ruinenfeld. So begann die eigentliche Blütezeit der Universität Dorpat erst nach der Neugründung unter Alexander I. (1777–1825) im Jahr 1802. Im 19. Jahrhundert stieg auch der Anteil der Esten im „Embach-Athen“ rapide an, mit der Zeitschrift „Eesti Postimees“ und anderen Institutionen wurde Dorpat auch ein zentraler Ort der estnischen Nationalbewegung.

Das wechselvolle 20. Jahrhundert nimmt mit knapp 60 Seiten den größten Raum im Buch ein, rund doppelt so viel wie jeweils das 17., 18. und 19. Jahrhundert. Zwei Weltkriege, mindestens drei Revolutionen (1905, 1917/18, 1989), mehrere kürzere oder längere Zeitabschnitte militärischer Besatzung durch bolschewistische und sowjetische Regimes und die Deutschen Reiche sowie zwei Phasen unabhängiger estnischer Staatlichkeit – allein die Politikgeschichte liefert für eine Dorpater Geschichte des letzten Jahrhunderts viel Stoff. In der ersten estnischen Republik, die von 1918 bis zur Annexion durch die Sowjetunion 1939 bestand, bildete Dorpat das Zentrum der Opposition zur Regierung. Als einzige Universitätsstadt des jungen Staates war Dorpat auch der wichtigste Wissenschaftsstandort mit zahlreichen akademischen und kulturellen Einrichtungen. In der sowjetischen Zeit blieb der rebellische Geist der Stadt erhalten, gerade von der Universität gingen manche regimekritischen Impulse aus.

Auch wenn das Buch eher populär gehalten ist, ist es eine grundsolide kleine Stadtgeschichte, die nicht der in solchen Büchern so oft vorherrschenden unseligen Neigung verfällt, Kuriositäten und historisches Marktplatzgetratsche hervorzuheben. So wird beispielsweise die Tatsache, dass bereits 1534 in Dorpat ein Kamel und ein Truthahn als Geschenke getauscht wurden (S. 37), nicht als „Fun Fact“ mitgeteilt, sondern im Rahmen der Dorpater Handelsverbindungen in der Frühen Neuzeit gedeutet; dass der erste Rektor der Universität ein 19-jähriger Student war (S. 71), wird ins größere Ganze der Universitätsämter und ihrer Bedeutung eingebettet. Ein angenehm sachlicher Tonfall durchzieht das ganze Buch, gelegentlich von einem geistreichen Augenzwinkern begleitet, aber stets frei von Floskelhaftigkeit, Übertreibung, Polemik, vorschnellen Deutungen oder nationaler Parteilichkeit.

Politik- und ereignisgeschichtliche Themen bilden den Schwerpunkt der von den Verfassern angestellten Fragen. Daneben werden auch Aspekte der Sozial- und Kultur- sowie der Alltagsgeschichte beleuchtet, aber merklich zurückgenommen gegenüber politischen Entwicklungen und Ereignissen. Uneinheitlich ist das Vorgehen der beiden Autoren im Nachweisen von Quellen: Während im ersten, von Anti Selart geschriebenen Teil Quellen im Fließtext auf Deutsch wiedergegeben werden und in den Fußnoten jeweils das zugrundeliegende lateinische, mittelhochdeutsche oder französische Original in voller Länge abgedruckt wird, verzichtet Mati Laur in den späteren Kapiteln ganz auf Belege. Ein Mittelweg, etwa die wichtigsten Zitate und Informationen knapp in Endnoten nachzuweisen, wäre zielführender gewesen. Sehr gut zusammengestellt ist dagegen die Auswahlbibliographie.

Sehr zu begrüßen ist, dass geographische Bezeichnungen wie Orts- und Flussnamen bei der ersten Nennung zweisprachig deutsch/estnisch, dann nur noch in der deutschen Form angegeben werden. Die Zeiten, in denen der Ortsname als politisches Statement missbraucht wurde (S. 11), sind ja gottlob längst vorbei. Orte und Personen sind dankenswerterweise auch in einem Register verzeichnet. Die Bebilderung ist sehr geschmackvoll und angemessen, wenn auch nicht alle Bilder in gleich guter Qualität abgedruckt sind. So hätte das verpixelte Bild der Domruine auf S. 29 durch eine moderne Rekonstruktion des mittelalterlichen Doms, wie sie das heute dort untergebrachte Universitätsmuseum zeigt, ersetzt werden sollen. Eine Rarität sind die aus Privatbesitz reproduzierten Münzen aus dem 16. Jahrhundert (S. 16). Die Bildunterschrift auf S. 88 ist lückenhaft entziffert, dort müsste es heißen: „bey dem Daseyn Ihro Kayserl. Majestaet“. Angesichts der komplizierten politischen Verhältnisse Livlands in der Frühen Neuzeit wären einige Karten zur Veranschaulichung für die Leserinnen und Leser, die mit der Geschichte der baltischen Länder weniger vertraut sind, sicherlich hilfreich gewesen. Gerade für ein breites Publikum sollte man im Übrigen auch den Quellenbegriff „Literaten“ (S. 55 und öfters), mit dem im baltischen Deutsch die akademisch Gebildeten bezeichnet wurden, besser umschreiben (oder für das 19. Jahrhundert durch „Bildungsbürgertum“ ersetzen), da man heute bei dem Begriff unbedarft an Romanschriftsteller denkt.

Der Untertitel „Geschichte einer Europäischen Kulturhauptstadt“ lässt das Buch etwas zeitgebunden wirken, was hoffentlich seine Rezeption nicht behindert. Denn nicht nur kulturbeflissene Dorpatreisende, die 2024 das reichhaltige Programm des Festjahres genießen, werden den Autoren für ihre Stadtgeschichte danken, sondern auch Fachhistorikerinnen und -historikern kann die Darstellung bei aller Knappheit des Raumes einen fundierten Überblick ermöglichen.

Anmerkung:
1 Karsten Brüggemann / Ralph Tuchtenhagen, Tallinn. Kleine Geschichte der Stadt, Köln 2011.